Abraham Maslow

Dr. C. George Boeree

Übersetzung auf Deutsch: Diana Wieser

Biographie

Abraham Harold Maslow ist am ersten April 1908 in Brooklyn, New York geboren. Er ist das erste von sieben Kindern, die Eltern waren jüdische Einwanderer aus Russland ohne Bildung. In der neuen Welt erhofften sie sich für ihre Kinder ein besseres Leben, daher trieben sie Maslows akademische Ausbildung voran. Dass er als Junge sehr einsam war und seine Zuflucht in Büchern suchte, ist daher nicht verwunderlich.

Um die Eltern zufrieden zu stellen, studierte er zunächst Jura am City College of New York (CCNY). Nach drei Semestern wechselte er nach Cornell, und danach wieder zurück zum CCNY. Gegen den Willen der Eltern heiratete er seine Kusine Bertha Goodman. Abe und Bertha bekamen zwei Töchter.

Sie zogen nach Wisconsin, so dass er dort die University of Wisconsin besuchen konnte. Dort begann er sich für Psychologie zu interessieren und seine Leistungen wurden auffallend besser. Mit Harry Harlow, der berühmt für seine Experimente mit Rhesusaffenbabies zum Bindungsverhalten war, arbeitete er dort zusammen.

1930 erhielt er seinen BA Abschluss, 1931 den MA und 1934 den PhD Abschluss, alles im Fachbereich Psychologie an der University of Wisconsin. Ein Jahr nach der Promotion kehrte er nach New York zurück, wo er mit E. L. Thorndike an der Columbia arbeitete und sich für Forschung zum menschlichen Sexualverhalten zu interessieren begann.

Er nahm eine Vollzeit Dozentur am Brooklyn College an. Während dieser Zeit kam er mit vielen europäischen Intellektuellen in Kontakt, die in die USA, insbesondere nach Brooklyn, immigriert waren – darunter waren zum Beispiel Adler, Fromm, Horney, sowie auch einige Gestalt- und freudianische Psychologen.

Ab 1951 war Maslow zehn Jahre lang Leiter des Psychologischen Instituts in Brandeis, dort traf er Kurt Goldstein (der ihn mit dem Gedanken der self-actualization bekannt machte) und nahm seine eigenen theoretischen Arbeiten auf.
Hier begann er auch seinen Kreuzzug der humanistischen Psychologie – etwas, das ihm letztlich noch wichtiger war, als seine eigenen Theorien.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Kalifornien, am achten Juni 1970 starb er an einem Herzinfarkt.

Theorie

Während seiner frühen Karriere als Maslow mit Affen arbeitete, entdeckte er, dass einige Bedürfnisse Vorrang vor anderen Bedürfnissen haben. Wenn du zum Beispiel hungrig und durstig bist, wirst du dich zunächst um deinen Durst kümmern. Denn ohne Nahrung kann man wochenlang auskommen, doch ohne Wasser hält man nur einige Tage durch! Durst ist also ein "stärkeres" Bedürfnis als Hunger. Und wenn du sehr, sehr durstig bist, jemand dich aber gerade würgt, so dass du nicht atmen kannst, welches Bedürfnis ist jetzt wichtiger? Das Bedürfnis zu atmen natürlich. Andererseits ist Sex weniger wirksam als die zuvor genannten Bedürfnisse. Seien wir ehrlich: du stirbst nicht, wenn du’s nicht bekommst!

 

Maslow entwickelte aus diesen Gedanken seine inzwischen berühmte Hierarchie der Bedürfnisse. Zu den Details Luft, Wasser, Nahrung und Sex setzte er fünf breitere Konzepte: Die physiologischen Bedürfnisse, die Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit, die Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit, die Bedürfnisse nach Wertschätzung und das Bedürfnis, sich zu verwirklichen – in dieser Reihenfolge.

1. Die physiologischen Bedürfnisse. Diese umfassen unser Bedürfnis nach Sauerstoff, Wasser, Eiweiß, Salz, Zucker, Kalzium und anderen Mineralien sowie Vitaminen. Zudem die Notwendigkeit, ein pH-Gleichgewicht (ein Ungleichgewicht würde uns umbringen) und eine bestimmte Temperatur aufrecht zu erhalten. Daneben gibt es das Bedürfnis, aktiv zu sein, sich auszuruhen, zu schlafen, Stoffe auszuscheiden (CO2, Schweiß, Urin, Fäzes), Schmerz zu vermeiden und Sex zu haben. Eine nette Sammlung!

Maslow ging davon aus – und die Forschung belegt dies – dass es sich hier um individuelle Bedürfnisse handelt, so dass zum Beispiel ein Mangel an Vitamin C dazu führt, dass man Hunger auf ganz bestimmte Dinge bekommt, die in der Vergangenheit dieses Vitamin zugeführt hatten – also etwa Orangensaft. Ich nehme an, dass die Gelüste schwangerer Frauen diesen Gedanken geradezu anekdotenhaft illustrieren – Babys essen ja auch ihre Babynahrung, obwohl sie überhaupt nicht schmeckt.

2. Die Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit. Sind die physiologischen Bedürfnisse weitgehend gedeckt, kommt diese zweite Schicht der Bedürfnisse ins Spiel. Wir beginnen, eine sichere Umgebung, Stabilität und Schutz zu suchen. Wir entwickeln das Bedürfnis nach Struktur, Ordnung, und auch nach einigen Grenzen.

Negativ ausgedrückt sorgen wir uns dann nicht mehr um Hunger und Durst, sondern wir sind mit unseren Befürchtungen und Ängsten konfrontiert. Für durchschnittliche Amerikanische Erwachsene bedeutet das, dass wir in einer sicheren Gegend wohnen wollen, wir suchen einen halbwegs sicheren Job, einen Sparstrumpf, eine gute Finanzrücklage für die Zeit der Pensionierung, ein paar Versicherungen und so weiter.

3. Die Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit. Sind die physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse zum größten Teil abgedeckt, zeigt sich eine dritte Schicht. Wir empfinden das Bedürfnis nach Freunden, einer Beziehung, Kindern, nach liebevollen Beziehungen im Allgemeinen sowie sogar nach Gemeinschaftsgefühl. Negativ ausgedrückt werden wir zunehmen anfällig für Einsamkeit und soziale Ängste.

Im Alltagsleben zeigen sich diese Bedürfnisse als unser Wunsch zu heiraten, eine Familie zu gründen, Teil einer Gemeinschaft oder einer Kirche zu sein, ein Bruder in einer Bruderschaft, Teil einer Gang oder eines Bowling Clubs.

4. Die Bedürfnisse nach Wertschätzung. Als nächstes beginnen wir, nach Selbstachtung zu suchen. Maslow entdeckte zwei Versionen unseres Bedürfnisses nach Achtung, eine niedrigere und eine höhere Form. Die niedrigere Form ist das Bedürfnis, von anderen respektiert zu sein, Status, Ruhm, Ehre, Anerkennung, Aufmerksamkeit, einen guten Ruf, Würde und sogar Dominanz inne zu haben. Die höhere Form umfasst unser Bedürfnis nach Selbstachtung, eingeschlossen der Empfindung von Selbstvertrauen, Kompetenz, Leistung, Professionalität, Unabhängigkeit und Freiheit. Dies ist die sogenannte "höhere" Form, weil man die Selbstachtung weit weniger leicht verlieren kann, als die Achtung von Seiten anderer!

In der negativen Version bedeuten diese Bedürfnisse niedrige Selbstachtung und Minderwertigkeitskomplexe. Maslow war der Meinung, dass Adler wirklich etwas Bedeutendes herausgefunden hatte, als er feststellte, dass diese Bedürfnisse die Grundlage vieler, wenn nicht sogar aller unserer psychologischen Schwierigkeiten sind. In modernen Gesellschaften haben die meisten von uns alles, was die physiologischen und Sicherheitsbedürfnisse deckt. Zumeist haben wir auch genügend Liebe und Zugehörigkeitsgefühl. Doch ein klein wenig Respekt scheint oftmals unheimlich schwierig zu erlangen zu sein!

Die oben genannten vier Level nennt Maslow Defizitbedürfnisse oder D-Bedürfnisse (D-needs).
Wenn du nicht genug von einem der genannten hast – d.h. du hast ein Defizit – dann verspürst du das Bedürfnis. Haben wir alles, was wir brauchen, fühlen wir auch nichts! Anders ausgedrückt hören diese Bedürfnisse dann auf, zu motivieren. Wie es in einem alten Blues heißt "you don’t miss your water till your well runs dry!"



Maslow spricht in diesem Zusammenhang auch von Homöostase. Homöostase ist das Prinzip nach welchem dein Heizungsthermometer funktioniert: Wenn es zu kalt wird, schaltet es die Heizung an; wird es zu warm, schaltet es die Heizung aus. In dieser Weise entwickelt dein Körper Hunger auf eine bestimmte Substanz, wenn sie fehlt; ist genügend davon vorhanden, verschwindet auch der Hunger. Maslow erweitert nun das homöostatische Prinzip einfach auf Bedürfnisse wie Sicherheit, Zugehörigkeit und Wertschätzung, obgleich wir diese Zusammenhänge für gewöhnlich nicht herstellen.

Maslow betrachtet all diese Bedürfnisse als überlebenswichtig. Auch Liebe und Wertschätzung sind für den Erhalt der Gesundheit unerlässlich. Ihm zu Folge sind all diese Bedürfnisse genetisch in uns angelegt, ebenso wie die Instinkte. So bezeichnet er sie auch als instinktoide – instinktähnliche -- Bedürfnisse.

Betrachtet man nun die gesamte Entwicklung, durchlaufen wir diese Level ähnlich wie Entwicklungsstufen. Als Neugeborene liegt unser Schwerpunkt (wenn nicht sogar alle vorhandenen Bedürfnisse) vollständig im physiologischen Bereich. Dann stellen wir bald fest, dass wir uns sicher fühlen wollen. Anschließend sehnen wir uns nach Aufmerksamkeit und Zuneigung. Etwas später dann suchen wir nach Selbstwertgefühl. All dies spielt sich bereits innerhalb der ersten Lebensjahre ab!

Unter Stress oder in lebensbedrohlichen Situationen können wir auf einen niedrigeren Level "regredieren". Fällt deine großartige Karriere in sich zusammen, mag es sein, dass du dich nach ein wenig Aufmerksamkeit umschaust. Verlässt dich die Familie, wird die Liebe wieder in den Vordergrund rücken. Naht der Tod nach einem langen und erfüllten Leben, beschäftigt dich plötzlich nichts so sehr wie das liebe Geld.

Auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gilt dies in ähnlicher Weise: Wird eine Gesellschaft instabil, schreien die Menschen nach einem starken Anführer, der alles wieder in Ordnung bringt. Fallen die ersten Bomben, suchen sie nach Schutz. Sind alle Lebensmittelgeschäfte leergefegt, werden die Bedürfnisse der Menschen noch fundamentaler.

Maslow schlägt nun vor, die Menschen nach ihrer "Philosophie der Zukunft" zu fragen – wie ihre Leben oder die Welt idealerweise wäre –, um zu erfahren, welche ihrer Bedürfnisse gedeckt sind und welche nicht.

Wenn es in deiner Entwicklung bedeutende Schwierigkeiten gegeben hat – eine Zeit extremer Unsicherheit, Zeiten, in denen man hungern musste, oder der Verlust eines Familienmitglieds durch einen Todesfall oder eine Scheidung, oder aber erhebliche Vernachlässigung oder Missbrauch – dann "fixierst" du dich vielleicht auf diese Bedürfniskonstellation, und zwar für den Rest deines Lebens.



Und das ist Maslows Konzept der Neurose. Vielleicht hast du als Kind einen Krieg miterlebt. Jetzt hast du alles, was dein Herz beliebt – und dennoch bist du geradezu besessen von der Sorge um Geld. Oder vielleicht haben sich deine Eltern scheiden lassen, als du noch klein warst. Jetzt bist du zwar glücklich verheiratet, hast aber dennoch Anfälle von Eifersucht oder machst dir ständig Sorgen, dass dein Partner dich verlassen wird, weil du nicht "gut genug" bist.

Selbstverwirklichung

Diese letzte Stufe ist ein wenig anders.

Maslow verwendet verschiedene Bezeichnungen für diesen Level: Er hat den Begriff "growth motivation" – Motivation, sich zu entwickeln – verwendet (kontrastierend zur Defizitmotivation), "being needs" – Bedürfnisse des Seins - (oder "B-needs", kontrastierend zu den "D-needs") sowie auch den Begriff der Selbstverwirklichung.

Hier handelt es sich um Bedürfnisse, die keine Balance oder Homöostase einschließen. Wenn sie sich einmal eingestellt haben, empfindet man sie weiterhin. Wenn wir sie "nähren", werden sie tendenziell sogar stärker! Sie beinhalten das fortwährende Bedürfnis, die eigenen Potentiale auszuschöpfen, "alles zu sein, was man sein kann." Es geht darum, vollständig und umfassend "du selbst" zu werden – daher auch der Begriff der Selbstverwirklichung.

Folgt man also dieser Theorie bis hier her, müssen die niedrigeren Bedürfnisse weitgehend abgedeckt sein, um der Selbstverwirklichung näher zu kommen. Und das macht Sinn: Wenn du hungrig bist, machst du dich auf die Suche nach Nahrung; wenn du nicht in Sicherheit bist, musst du ständig auf der Hut sein; wenn du isoliert und ungeliebt bist, müssen diese Bedürfnisse zunächst gestillt werden; wenn du ein niedriges Selbstwertgefühl hast, verhältst du dich defensiv oder kompensierst. Wird deinen niedrigeren Bedürfnissen nicht entsprochen, kannst du dich auch nicht darauf konzentrieren, deine Potenziale auszuschöpfen.

So ist es nicht verwunderlich, dass nur ein geringer Prozentsatz der Weltbevölkerung sich wirklich und vorrangig damit beschäftigt, sich selbst zu verwirklichen – die Welt ist nun mal schwierig. Maslow schätzte den Anteil einmal auf ungefähr zwei Prozent!

Jetzt taucht natürlich die Frage auf, was Maslow genau mit Selbstverwirklichung meint. Um eine Antwort darauf zu finden, sollten wir uns die Leute ansehen, die er in diese Gruppe gefasst hat. Glücklicherweise hat er das alles für uns dargelegt.

Zunächst suchte er eine Gruppe von Leuten heraus, einige historische Personen und einige seiner Bekannten, von denen er eindeutig meinte, dass sie die Standards der Selbstverwirklichung erfüllten. Zu diesem erlesenen Kreis zählten zum Beispiel Abraham Lincoln, Thomas Jefferson, Mahatma Gandhi, Albert Einstein, Eleanor Roosevelt, William James, Benedict Spinoza und andere. Dann sah er sich ihre Biographien und Schriften genauer an, bei den Leuten, die er selbst kannte, bezog er ihr Verhalten und ihre Worte mit ein. Auf der Grundlage dieser Quellen entwickelte er eine Liste von Qualitäten, die für diese Menschen charakteristisch zu sein schienen, nicht aber für die Masse der Bevölkerung.

Diese Menschen waren realitätszentriert (reality-centered), das bedeutet, dass sie Schwindel und Unaufrichtigkeiten von Realem und Authentischem unterscheiden konnten. Sie waren problemzentriert, gingen also mit den Schwierigkeiten des Lebens wie mit Problemen um, die eine Lösung verlangen, statt als persönlichen Kummer, über den man schimpfen kann oder vor dem man kapituliert. Und zudem hatten sie eine andere Wahrnehmung von Mittel und Zweck. Sie waren der Auffassung, dass der Zweck nicht notwendigerweise die Mittel heiligt, dass Mittel selbst Ziele sein konnten und dass die Mittel – der Weg -- oftmals bedeutsamer waren, als die Ziele.

Diese Menschen hatten daneben auch eine andere Art, sich zu anderen in Beziehung zu setzen.
Zunächst hatten sie das Bedürfnis nach Privatsphäre, sie fühlten sich allein wohl. Sie waren relativ unabhängig von Kultur und Umfeld, verließen sich stattdessen auf die eigenen Erfahrungen und das eigene Urteilsvermögen. Und sie widersetzten sich der kulturellen Eingliederung, damit ist gemeint, dass sie sich gesellschaftlichem Druck nicht unterwarfen – also waren sie im Grunde Nonkonformisten im besten Sinne.

Zusätzlich hatten sie Wertvorstellungen, die Maslow als demokratische Werte bezeichnete, das bedeutet, dass sie für ethnische und individuelle Vielfalt offen waren und diese Vielfalt sogar hoch schätzten. Sie hatten die Eigenschaft, die als Gemeinschaftsgefühl – also gesellschaftliches Interesse, Mitgefühl, Menschlichkeit – bezeichnet wird. Daneben genossen sie vertraute persönliche Beziehungen zu einigen engen Freunden und Familienmitgliedern statt eher oberflächlicher und zahlreicher Bekanntschaften.

Ihr Humor war ohne Feindseligkeiten – sie scherzten lieber auf eigene Kosten und niemals auf die Kosten anderer. Als eine weitere Eigenschaft nannte Maslow die Akzeptanz von Selbst und anderen; damit meint er, dass diese Menschen dich lieber so annehmen, wie du bist, statt dich ihren Vorstellungen gemäß ändern zu wollen. Diese Akzeptanz galt auch ihnen selbst gegenüber: Wenn eine ihrer eigenen ehr negativen Eigenschaften niemandem schadete, ließen sie es auf sich beruhen oder hatten sogar ihren Spaß an dieser Marotte. Hinzu kommen Spontaneität und Schlichtheit: Diese Menschen waren lieber sie selbst, sie verstellten sich nicht und verhielten sich nicht künstlich. Trotz ihrer Nichtkonformität waren sie an der Oberfläche doch konventionell, wie Maslow herausfand; wobei Nonkonformisten, die nicht sehr weit in ihrer Selbstverwirklichung fortgeschritten sind, im Gegensatz dazu sehr dramatisch auftreten.

Diese Menschen zeigten eine bestimmte Aufgeschlossenheit, die Fähigkeit, selbst alltägliche Dinge zu bestaunen. Damit gehen Kreativität, Erfindungsreichtum und Originalität einher.
Außerdem hatten diese Menschen überdurchschnittlich viele "peak experiences". Damit sind Erfahrungen gemeint, die dich über dich selbst hinausheben, du fühlst dich sehr klein oder sehr groß, in gewisser Weise eins mit der Natur oder mit Gott. Du empfindest dich als Teil der Unendlichkeit oder des Ewigen. Derartige Erfahrungen hinterlassen einen tiefen Eindruck, verändern einen Menschen im positiven Sinne, manche Menschen suchen sogar aktiv nach derartigen Erfahrungen. Man bezeichnet das auch als mystische Erfahrungen, die ein wichtiger Bestandteil zahlreicher Religionen und Philosophietraditionen sind.

Selbstverständlich geht Maslow nicht davon aus, dass diese Menschen perfekt sind. Er fand auch verschiedene Schwächen und Unvollkommenheiten: Zum einen litten diese Leute oftmals beträchtlich unter Ängsten und Schuldgefühlen – allerdings unter realistischen Ängsten und Schuldgefühlen, also nicht unter den fehlgeleiteten oder neurotischen Versionen. Einige von ihnen waren geistesabwesend sowie übermäßig gütig. Und zum guten Schluss zeigten einige von ihnen gelegentlich unerwartete Unbarmherzigkeit, chirurgische Kälte und den Verlust ihres Humors.

Metabedürfnisse und Metapathologien

Eine andere Zugangsweise, mit der sich Maslow der Selbstverwirklichungsproblematik annähert, ist, dass er die speziellen motivierenden Bedürfnisse der Menschen zuwendet.

Wer sich selbst verwirklicht, benötigt demnach folgendes, um glücklich zu sein:

Aufrichtigkeit statt Unaufrichtigkeit.

Güte statt Boshaftigkeit.

Schönheit statt Hässlichkeit oder Gemeinheit.

Einheit, Ganzheit und Transzendenz der Gegensätze und nicht Willkür oder erzwungene Entscheidungen.

Lebendigkeit, nicht Regungslosigkeit oder ein mechanisiertes Leben.

Einzigartigkeit, nicht die beruhigende Uniformität.

Perfektion und Notwendigkeit, nicht Nachlässigkeit, Unbeständigkeit oder Zufall.

Vollendung statt der Zustand des Unvollendeten.

Gerechtigkeit und Ordnung, nicht Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit.

Einfachheit, keine unnötige Komplexität.

Reichhaltigkeit, keine Verarmung der Umgebung.

Mühelosigkeit, nicht Anstrengung.

Das Spielerische, keine grimmige humorlose Plackerei.

Genügsamkeit, nicht Abhängigkeit.

Bedeutsamkeit statt Sinnlosigkeit.

Auf den ersten Blick scheint jeder diese Bedürfnisse ganz offensichtlich zu verspüren. Doch wir müssen folgendes bedenken: Wenn du gerade eine wirtschaftliche Depression durchlebst, oder in einem Ghetto, in ländlicher Armut lebst, machst du dir dann Sorgen über die oben genannten Fragen oder nicht vielmehr darüber, genug Nahrungsmittel aufzutreiben und ein Dach über dem Kopf zu haben? Maslow geht tatsächlich davon aus, dass viele Probleme in der Welt letztlich darauf zurück zu führen sind, dass sich nur wenige Menschen für diese Werte interessieren – und zwar nicht, weil sie schlechte Menschen wären, sondern weil ihre Grundbedürfnisse nicht versorgt sind!

Ist man dabei, sich selbst zu verwirklichen und diese Bedürfnisse sind nicht abgedeckt, reagiert man mit Metapathologien – eine Liste von Schwierigkeiten, die so lang ist, wie die Lister der Metabedürfnisse! Wir können zusammenfassend sagen, dass man im Zuge der Selbstverwirklichung dann Depression, Verzweiflung, Abscheu, Enfremdung und ein gewisses Maß an Zynismus entwickelt, wenn man gezwungen ist, ohne diese Werte zu leben.

Maslows Hoffnung war es, dass man mit Hilfe seiner Darstellung der sich selbst verwirklichenden Person irgendwann eine "periodische Tabelle" dieser Qualitäten erstellen könnte, also die Schwierigkeiten, Pathologien und auch die Lösungsmöglichkeiten, die für die Stufe höherer menschlicher Potentiale charakteristisch sind. Mit der Zeit widmete er seine Aufmerksamkeit weniger auf seine eigene Theorie, sondern verstärkt der humanistischen Psychologie und der Bewegung um die menschlichen Potenziale.

In den späten Jahren seines Lebens rief er etwas ins Leben, das er als die vierte Kraft in der Psychologie (fourth force in psychology) bezeichnete: die Freudianische und andere "Tiefenpsychologien" stellten die erste Kraft dar; der Behaviorismus war die zweite Kraft; und die dritte Kraft war sein eigener Humanismus eingeschlossen des europäischen Existentialismus. Die vierte Kraft waren die transpersonalen Psychologien, die ausgehend von östlichen Philosophien, zum Beispiel die Meditation, höhere Bewusstseinsstufen und auch parapsychologische Phänomene erforschten. Der heute wohl bekannteste Fachmann dieses Bereichs ist Ken Wilber, er schrieb unter anderem The Atman Project und The History of Everything .

Diskussion

Maslow ist für die Persönlichkeitstheorien eine große Inspirationsquelle gewesen.

Besonders in den 60er Jahren waren die Menschen die reduktionistischen, mechanistischen Botschaften der Behavioristen und physiologischen Psychologen leid. Vielmehr suchten sie nach Bedeutung und Sinn im eigenen Leben, oder gar nach einem höheren, mystischen Sinn. Maslow war ein Pionier dieser Bewegung, brachte das Menschliche zurück in die Psychologie und die Person zurück in die Persönlichkeit!

Ungefähr zur gleichen Zeit war bereits eine andere Bewegung auf dem Weg, und zwar eine Bewegung, die von etwas inspiriert war, das Maslow nicht unbedingt berauschen fand: Computer und Datenverarbeitung, zudem sehr rationalistische Theorien wie etwa Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und Noam Chomskys Linguistik. Daraus wurde also die kognitive Bewegung in der Psychologie. Als der Höhepunkt der humanistischen Bewegung zu wenig mehr zu führen schien als zu Drogenmissbrauch, Astrologie und Maßlosigkeit, stellte die kognitive Bewegung die wissenschaftlichen Grundlagen her, nach denen Psychologiestudenten sich sehnten.

Doch wir sollten die Botschaft nicht aus den Augen verlieren: In der Psychologie geht es in erster Linie um die Menschen, um wirkliche Menschen mit einem wirklichen Leben, und nicht um Computermodelle, statistische Analysen, das Verhalten von Ratten, Testergebnisse und Labore.

kritische Anmerkungen

Lassen wir das "große Ganze" einmal beiseite, so gibt es einige Punkte, an denen wir Maslows Theorie kritisch beleuchten können. Allgemein wird seine Methode kritisiert: Zunächst klingt es nicht nach wirklich wissenschaftlichem Vorgehen, dass er sich eine kleine Gruppe von Menschen herauspickt, die seinem eigenen Ermessen nach sich selbst verwirklichen, dann liest er über sie etwas nach oder spricht mit ihnen und gelangt so zu Schlussfolgerungen darüber, was Selbstverwirklichung bedeutet.

Zu seiner Verteidigung sollte ich anmerken, dass er sich dessen sehr wohl bewusst war, denn er verstand seine Arbeit einfach nur als Wegweiser. Es war seine Hoffnung, dass andere die Arbeit, die er recht rigoros begonnen hatte, aufnehmen und zuende bringen würden. Hinzu kommt, dass es schon kurios wirkt, dass Maslow, der "Vater" des amerikanischen Humanismus seine Karriere als Behaviorist mit physiologischem Schwerpunkt begann. Und er glaubte tatsächlich fest an die Wissenschaft, verankerte seine Theorien auch oftmals in der Biologie. Sein Anliegen aber war es, die Psychologie auszuweiten, das Beste in uns ebenso wie das Pathologische mit einzuschließen!

Ein weiterer Kritikpunkt, der sich schwieriger kontern lässt, ist, dass Maslow das Konzept der Selbstverwirklichung so stark eingeschränkt hat. Kurt Goldstein und Carl Rogers verwendeten den Begriff erstmals, um das zu beschreiben, was jedes Lebewesen tut: Es versucht, sich zu entwickeln, vollständiger zu werden, das eigene biologische Schicksal zu erfüllen. Doch Maslow beschränkt den Begriff auf etwas, dass offenbar nur zwei Prozent der menschlichen Spezies je erreichen. Und während Rogers davon ausging, dass Babys das beste Beispiel für die Selbstverwirklichung des Menschen sind, betrachtete Maslow Selbstverwirklichung als etwas, das junge Menschen nur ganz selten erreichen konnten.

Hinzu kommt, dass Maslow in seiner Theorie ja davon ausgeht, dass unsere niedrigeren Bedürfnisse sehr weitgehend abgedeckt sein müssen, damit die Selbstverwirklichung überhaupt vordergründig werden kann. Dennoch finden sich viele Beispiele für Menschen, die zumindest Aspekte der Selbstverwirklichung zeigten, obwohl sie weit davon entfernt waren, ihre niedrigeren Bedürfnisse abgedeckt zu haben. Zahlreiche unserer herausragendsten Künstler litten zum Beispiel an Armut, schlechter Erziehung, Neurosen und Depressionen. Manche mag man sogar als psychotisch einstufen! Denken wir zum Beispiel an Galileo, der für Ideen betete, die sich verkaufen ließen, oder an Rembrandt, der kaum etwas Essbares auf dem Tisch hatte, oder an Toulouse Lautrec, dessen Körper eine Qual für ihn war, oder van Gogh, der arm und zudem auch nicht ganz richtig im Kopf war, wenn Sie verstehen, was ich meine...

Arbeiteten diese Menschen nicht an einer Form der Selbstverwirklichung? Die Vorstellung, dass Künstler, Dichter und Philosophen (und Psychologen!) seltsam seien, ist so verbreitet, weil an dieser Vorstellung eben auch viel Wahres ist!

Es gibt auch Beispiele für Menschen, die selbst im Konzentrationslager noch kreativ waren. Trachtenberg, entwickelte eine neue Verfahrensweise für Arithmetik, während er inhaftiert war. Viktor Frankl entwickelte seine Therapieform in einem Konzentrationslager. Und es gibt viele weitere Beispiele.

Dann gibt es noch Beispiele für Menschen, die kreativ waren, solange sie noch keinen Ruhm erlangt hatten, sobald sie aber bekannt wurden, endete ihre Kreativität. Ernest Hemingway, wenn ich mich nicht irre, ist ein solches Beispiel. Vielleicht handelt es sich auch um Ausnahmen und die Hierarchie der Bedürfnisse entspricht dennoch dem allgemeinen Trend. Wie dem auch sei, diese Ausnahmen geben doch Anlass zum Zweifel an der Theorie.

Ich möchte eine Variante zu Maslows Theorie vorschlagen, die weiterhelfen könnte. Wenn wir dazu den Gedanken von Selbstverwirklichung so nehmen, wie Goldstein und Rogers ihn verwenden, das heißt als die "Lebenskraft", die alle Lebewesen antreibt, dann können wir auch erkennen, dass es verschiedene Dinge gibt, die der vollen Effektivität dieser Lebenskraft entgegenstehen. Wenn unsere physischen Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind, wenn wir uns bedroht fühlen, isoliert von anderen, oder kein Vertrauen in unsere Fähigkeiten haben, dann werden wir zwar weiter existieren, aber unser Leben wird nicht so erfüllt sein, wie es sein könnte. Wir wären nicht in der Lage, unsere Potentiale zu verwirklichen! Dann wäre auch verständlich, warum manche Menschen ihre Potenziale trotz Deprivation verwirklichen! Subtrahieren wir unsere defizitären Bedürfnisse von der Selbstverwirklichung, und sprechen wir von voller Selbstverwirklichung statt einfach nur von Selbstverwirklichung als separate Bedürfniskategorien, dann schließt Maslows Theorie auf zu anderen Theorien. So kann man die außergewöhnlichen Menschen, die trotz widriger Umstände erfolgreich sind als heldenhaft betrachten, und nicht als ausgeflippte Aberration.

Die folgende Mail erhielt ich von Gareth Costello aus Dublin, Irland, in der er meine leicht negative Betrachtungsweise bezogen auf Maslow ausbalanciert:

Ich hätte nur einen kleinen Punkt zu Ihrer abschließenden Einschätzung anzumerken, in der Sie für eine breiter angelegte Sicht der Selbstverwirklichung plädieren, die auch Menschen wie van Gogh und andere intellektuelle/kreative Giganten einschließt. Dies scheint auf der Annahme zu basieren, dass Menschen wie van Gogh, etc. aufgrund ihrer enormen Kreativität 'mindestens teilweise' sich selbst verwirklicht hatten.
Ich favorisiere hingegen eher Maslows enger gefasste Definition der Selbstverwirklichung und würde nicht mit Ihnen übereinstimmen, dass Selbstverwirklichung mit höchstem Ausdruck des Selbst gleichzusetzen ist. Vielmehr nehme ich an, dass Selbstverwirklichung oftmals bezogen auf Kreativität ein demotivierender Faktor ist, und dass Künstler wie van Gogh insbesondere in Ermangelung der Umstände, die zur Selbstverwirklichung förderlich sind, danach strebten (künstlerisch, wenn nicht auch in anderer Hinsicht). Selbst finanziell erfolgreiche Künstler (z.B. Stravinsky, der berühmt dafür war, dass er sich hervorragend um die Finanzen und andere Angelegenheiten kümmerte) zeigen einige der motivierenden Faktoren, die Sie so gut darlegen.

Selbstverwirklichung impliziert eine Offenheit, die zur Introspektion, die eine Voraussetzung für großen künstlerischen Ausdruck sein kann, in scharfem Kontrast steht. Wo Wissenschaftler in der Welt um sie herum etwas von grundlegender oder universeller Bedeutung finden, suchen Künstler für gewöhnlich in sich selbst nach etwas von persönlicher Bedeutsamkeit – die Universalität ihres Werkes ist zwar wichtig, aber sekundär. Es ist interessant, dass Maslow sich auf Menschen konzentriert zu haben scheint, die sich mit dem großen Ganzen beschäftigten, als er zu seiner Definition von Selbstverwirklichung gelangte. Mit Einstein wählte er einen Wissenschaftler, der nach einer Theorie für das gesamte physikalische Universum suchte. Die Philosophen und Politiker, die Maslow analysierte, beschäftigten sich mit Fragen, die für die gesamte Menschheit von großer Bedeutung waren.

Damit soll der Wert des 'kleinen Zusammenhangs' nicht verringert werden. Doch während Selbstverwirklichung synonym für psychologische Balance und Gesundheit sein mag, führt Selbstverwirklichung dennoch nicht notwendig zu professioneller oder kreativer Brillanz in allen Bereichen. In einigen Fällen mag es die motivierende Kraft entfernen, die dazu führt, dass Menschen sich auszeichnen – Kunst ist das klassische Beispiel. Daher stimme ich nicht damit überein, dass die Reichweite der Selbstverwirklichung so ausgedehnt wird, dass Menschen miteingeschlossen sind, die zwar brillant gewesen sind, dennoch aber wahrscheinlich einen Schaden hatten oder unglückliche Menschen waren.

Wenn ich für meine Kinder zwischen Brillanz und Selbstverwirklichung zu wählen hätte, würde ich mich für letzteres entscheiden! Gareth bringt da einige sehr gute Gedanken ein!

Bibliographie

Maslows Bücher sind leicht zu lesen und voller interessanter Ideen.

Am bekanntesten sind Toward a Psychology of Being (1968), Motivation and Personality (first edition, 1954, and second edition, 1970), und The Further Reaches of Human Nature (1971).

Daneben gibt es zahlreiche Artikel von Maslow, insbesondere im Journal of Humanistic Psychology, welches er mitbegründet hat.

Werke von Abraham Maslow in deutscher Sprache:

Motivation und Persönlichkeit
Rowohl Taschenbuch
ISBN: 3499173956

Psychologie des Seins
München: Kindler
ISBN: 3463005603
oder
Frankfurt: Fischer TB
ISBN: 3596421950

Die Psychologie der Wissenschaft. Neue Wege der Wahrnehmung und des Deutens
München: Goldmann
ISBN: 3442111315